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Liste der besprochenen Bücher

 

 

 

- Jenny Erpenbeck. Heimsuchung. Frankfurt: Eichborn, 2008.

- Elizabeth George. Careless in Red. London: Hodder and Stoughton, 2008.

- Heinz Schlaffer. Die kurze Geschichte der deutschen Literatur. München: Hanser, 2002. 

 

 

 

 

 


Jenny Erpenbeck. Heimsuchung. Frankfurt: Eichborn, 2008.

 

warum am anfang nicht frau erpenbeck? vor zehn jahren war die "geschichte vom alten kind" eine zeitlang mein liebstes buch. es hat mir gut gefallen, wie darin das dem außenseitertum anhaftende verstörende und befremdende ins geheimnisvolle gewendet wird. und am ende steht dann dieses gerade liebgewonnene dunkle für leser wie leserin von neuem zerstört da.

 


jetzt gibt es "heimsuchung" von frau erpenbeck, die auch theater und oper macht: ein etwas dickeres, aber immer noch dünnes und wiederum sehr poetisches buch über einen ort, ein haus, an anwesen, an einem see im osten. die geschichte des letzten jahrhunderts brandet darüber hinweg. zu beginn werden erdgeschichtliche perspektiven eröffnet. dann aber geht es um in groben zügen uns allen bekannte historie. die gewohnten gestalten treten auf: juden, nazis, mitläufer, täter, kommunisten, flüchtlinge.

ungewöhnlich ist, dass ein ort im mittelpunkt steht, nämlich das erwähnte haus und dazu noch die natur und ein diese bezähmender, ewig währender, namenloser gärtner. genau genommen bleiben alle personen namenlos und damit bloße schemen. wobei bleiben das falsche wort ist. sie alle vergehen wie schemen und was bleibt, zumindest bis zum ende bleibt, ist der gärtner, der erst verschwindet, als auch das haus verschwindet, abgerissen wird.
 
wie gesagt, eine neue lesart der geschichtlichen, menschlichen ereignisse war wohl nicht beabsichtigt. ob das buch funkioniert? ja und nein.

die garten, bau- und naturbetrachtungsstellen sind ruhig geschrieben und angenehm erdig. man denkt sich: da haben wir schönes, jenseits des menschentumultes, etwas unabhängig von uns gutes, vom bösen nicht greifbares, einen hauch von ewigkeit.

das ist eine setzung von frau erpenbeck, die man so nicht hinnehmen kann. natur kann auch von übel sein und eiskalt. mitleid und rücksichtnahme gibts da, soweit wir wissen, nicht. aber hier, wie auch immer, erscheint sie so: zuverlässig, erdig, im wandel unwandelbar: es ist wie es ist.

 

 

die verknüpfung der menschlichen schicksale mit dem ort, dem see, dem garten, dem haus, erfolgt auf unterschiedliche weise. zunächst einmal befinden sich alle mindestens einmal an diesem ort. dann erinnern sie sich an ihn zurück oder denken, sich an ihm befindend über ihn oder anderes nach: ein kleines jüdisches mädchen im ghetto kurz vor seiner erschießung, ausgewanderte juden in südafrika, ein architekt, der aus der ddr in den westen flieht, eine flüchtlingsfrau ... alle denken etwas anderes. für die weggegangenen/weggehenden ist er ein unerreichbarer sehnsuchtsort, für die ankommenden ein anlass zu rückblick und zukunftsplanung. nur der gärtner ist immer bloß da und pflanzt und pflegt im hier und jetzt in unberührbarer anonymität.

es wird also eine sehnsucht beschrieben nach einem festen, zuverlässigen. nach etwas, das sich jenseits des menschlichen wandels befindet. es bleibt aber für uns unerreichbar. wir müssen die unterschiedlichen schrecken menschlichen geschicks ertragen, müssen immer weiter, an andere orte oder in einen zuweilen grausamen tod und können uns bloß sehnen, den ort erkennen, wenn wir dort sind und uns ihm hingeben.
das aber gelingt nur selten, denn stets sind wir planende und reflektierende, auf anderes als den gegebenen augenblick hinsehende.

 


das ist schön, wahr und ich könnte es so unterschreiben und dennoch ... ich nehme nicht allen personen ihre sehnsucht ab, dem kleinen mädchen im ghetto nicht, auch den ausgesiedelten juden in südafrika nicht, dem architekten aber glaube ich sie und der flüchtlingsfrau auch. das kann daran liegen, dass es, anders als hier vermutet, gar nicht um diese sehnsucht geht oder, was mir wahrscheinlicher erscheint, dass einige charaktere stärker gezeichnet sind als andere.


im grunde hätte das buch bei dieser vielzahl an personen dicker werden müssen. oder andersherum: weniger personen wären einem so schmalen buch angemessener gewesen. so kommen alle zu kurz. aber so ist es ja auch im leben: wir alle kommen zu kurz.

und so können die verschiedenen scherenschnittpersonen in heimsuchung exemplarisch für uns alle stehen. sie führen das uns allen gemeinsame schicksal unerfüllter sehnsucht, scheiternden lebens vor. 

am ende muss auch der ort selber ein wenig mitleiden und federn lassen unter dem gang der dinge. alles, was menschlichen ursprungs war, wird weggenommen: der garten wird zunichte gemacht, die gebäude nach und nach abgerissen und was da für einen moment wieder sichtbar wird, ist das ewige, unwandelbare, die natur, das, um das der text kreist. und so lautet der letzte satz denn auch:


"bevor auf demselben platz ein anderes haus gebaut werden wird, gleicht die landschaft für einen kurze moment wieder sich selbst."

aber da wird mir dann doch moralisch. denn lassen sich die schicksale eines kleinen mädchen, das im ghetto erschossen wird und das eines architekten, der vor den behörden der ddr flieht, wirklich so mir nichts dir nichts vor dem hintergrund ewig waltender mächte auf einen nenner bringen? irgendetwas ist dann doch ein wenig falsch an diesem buch - oder an mir. wer weiß?


links:

http://de.wikipedia.org/wiki/Jenny_Erpenbeck


http://www.perlentaucher.de/buch/28888.htm">weitere rezensionen</a>

 


 

Elizabeth George. Careless in Red. London: Hodder & Stoughton, 2008.

 

Jedes Buch sollte nach den Maßstäben beurteilt werden, die in ihm enthalten sind, die seiner inneren Logik entsprechen, jenen Maßstäben eben, die es letztlich an sich selbst anlegt.

Das heißt, die persönlichen Vorlieben der Person, die über das Buch schreibt, sollten keine Rolle spielen, oder allenfalls eine geringe. Der eigene Geschmack kann in der Wahl des zu beurteilenden Gegenstandes zum Ausdruck kommen, weiter aber sollte es nicht gehen.

Es ist schwer, von den eigenen Vorlieben abzusehen, unmöglich jedoch ist es, einem Buch die Maßstäbe zu entnehmen, nach denen es zu beurteilen ist. Man kann es allenfalls unter Gesichtpunkten wie Folgerichtigkeit der Plot- und Charakterentwicklung bzw. -gestaltung betrachten oder untersuchen, inwieweit die Regeln des Genres befolgt bzw. erweitert werden oder ob gegen sie verstoßen wird. Die Unterscheidungen sind in solchen Punkten diffizil und fließend.

Um es kurz zu sagen: Ein Buch kann die Regeln in jeder Hinsicht einhalten, es kann ebenso gründlich gegen sie verstoßen. In beiden Fällen kann es ebensogut ein bedrückend schlechtes wie berückend beglückendes Buch sein.

Soviel an Vorrede.

Elizabeth George ist berühmt und gilt laut Klappentext, der die Londoner Stadtzeitschrift Time Out zitiert, als „one of the best crime novelists around“. Beste Krimiautoren gibt es, zumindest wenn man Klappenetxten glaubt, in jenen wie diesen Gegenden mehr als genug. Elizabeth George aber hat auch in Fachkreisen einen guten Ruf. Sie ist nicht nur sehr erfolgreich. Ihr Buch Write Away: A Novelists Approach to Fiction and the Writing Life ist ein lesenswerter Beitrag zum Thema „Wie funktioniert Schreiben?“ und ihre Plots stehen landauf landab Modell in Krimiseminaren. Anlass genug, einen Blick in ihr neues Buch zu werfen.

Und um es gleich zu sagen, es gibt viel Schlechteres. Über Elizabeth George zu schreiben ist keine verschwendete Zeit. Sich über Karen Slaughter Gedanken zu machen, wäre genau das.

Careless in Red fesselt zu Beginn: ein namenloser, einsamer Mann ist zu Fuß auf einem Küstenpfad in Cornwall unterwegs. Er ist unzureichend ausgestattet, übernachtet am Weg, ist am Ende seiner körperlichen und geistigen Kräfte sowie offensichtlich lebensmüde.

Danach wird es für eine lange Zeit ziemlich langatmig und langweilig. Ein Mord hat sich ereignet, aber Umstände wie Opfer, lassen einen über das gesamte Buch hinweg ziemlich gleichgültig.

Im Übrigen wird das Personal eingeführt. Ein aristokratischer Ex-Scotland Yard Kommissar, dessen Frau ihm von einem Zwölfjähigen erschossen wurde, seine schrullige Assistentin, dazu die allein erziehende, federführende Kommissarin, ihr Sohn, ihr geschiedener Mann, eine geheimnisvolle Tierärztin, die nicht die ganze Wahrheit sagt, die ländliche Dorfbevölkerung Cornwalls, tumbe Provinzpolizisten, kaputte Familien im Surfer- und Abenteuerurlaubsmilieu und so weiter. Dazu kommen angedeutete dunkle Geheimnisse in Gegenwart und Vergangenheit.

Wer sich nicht in eine der Figuren verkuckt oder besonderes Interesse am ländlichen Cornwall, dem Surfsport oder Klettern hat, der muss bis ungefähr zur Hälfte des Buches warten, um wieder gepackt zu werden. Dann beginnen sich Georges großangelegte Verwicklungsvorbereitungen auszuzahlen. Nun will man allmählich wissen, wie´s gewesen ist und wie´s weiter gehen wird. Zwar lässt sich die Auflösung früh erahnen, da es im Grunde nur ein wirklich überzeugendes Mordmotiv gibt, aber die Frage, wie genau sich die Dinge auflösen werden, entfaltet eine beachtliche Sogwirkung. George gelingt es, eine große Anzahl unterschiedlicher Themen und Konflikte in ihrem Roman zu entfalten. Es geht darum, wie Eltern mit Heranwachsenden umgehen oder umgehen sollten, speziell um Vater-Sohn Beziehungen, um jugendliche und die Möglichkeiten weiblicher Sexualität (Promiskuität, in der Ehe wie außerhalb, traditionelles Rollenverständnis, einsam mit Vibrator), um, wie erwähnt, das Surfen und Cornwall, die persönliche Tragik und Bewältigungsgeschichte des adligen Scotland Yard Helden Thomas Lynley, um Sinti und Roma und es kann gut sein, dass mir im Rückblick der ein oder andere Bereich entgangen ist.

Wie auch immer, George schafft es, all diese Themen und Konflikte am Leben zu erhalten und einem Ende zuzuführen. Das erfordert bei einem beinahe 600seitigen Buch einiges an Organisations- und Planungsvermögen.

Besonders stark ist sie in der Darstellung familiärer Konflikte, dazu zählen in diesem Fall vor allem Ehekonflikte, die Probleme von Heranwachsenden und alleinstehenden Frauen. Auch eine atmosphärisch dichte Darstellung Cornwalls gelingt ihr. Etwas weniger, vor allem weniger Wiederholung, hätte vermutlich auch ausgereicht. So bedrängen einen Wind, bröckelnde Klippen und wogende Wellen selbst noch, wenn das Buch längst ausgelesen ist und zur Seite gelegt wurde. 

Angelesen dagegen wirkt alles, was mit Surfen und Klettern zu tun hat. Hier fehlt George offenbar der Zugang und die entsprechenden Passagen sind ebenso detailliert wie langatmig und leblos.

Bei der Auflösung des Falles erweist sich George wieder als Meisterin in Planung und atmosphärisch starker Darstellung, die es darüber hinaus schafft, dem Vorhersehbaren noch eine überraschende Wendung zu geben. Letztlich liegen die Ursachen des Verbrechens, des Bösen überhaupt, in der Vergangenheit und der Weg, sich mit lange zurückliegenden Ereignissen zu befassen, erweist sich letztlich als der richtige. Alle auf die Gegenwart und Zukunft gerichteten Motive dagegen sind bedeutungslos. Es geht nicht um „sex, power, money“, sondern ganz altmodisch um Rache, allerdings fehlgeleitete Rache.

Elizabeths Georges Plots sind dicht gewebt, sie zeichnet ihre Orte stimungsvoll, ihre Personen sind voller Leben und ebenso vielfältig wie ihre Beziehungen untereinander. George hat dabei einen guten Blick für die Details menschlichen Innenlebens. Anzumerken bleibt allein der reißerische Titel, den aber wohl nicht die Autorin, sondern der Verlag zu verantworten hat. Nervenaufreibend ist, dass es George in 80% der Dialoge nicht genügt, wenn geredet wird. Nein, es müssen nebenher Gartenarbeiten fortgesetzt oder köstliche Gerichte gekocht werden. Selbst bei Vernehmungen wird immer noch etwas anderes erledigt. Das lässt die Situationen öfters ins Absurde kippen und führt zu unpassender Heiterkeit.

Sympathisch wird Elizabeth George vor allem einem durch ihre offensichtliche Vorliebe fürs Bunte. Sie versammelt ein entsprechendes Personal in ihrem Buch vom aristokratischen Detektiv, der seine Frau verloren hat, über die Tierärztin mit Sinti-Hintergrund bis zur Femme Fatale, die mit Kleidung in roter Signalfarbe bestückt, sich jeden Mann nimmt, der ihr über de Weg läuft.

Der Roman entspringt ganz offensichtlich Elizabeth Georges freigelassener Fantasie, ihren eigenen Besessenheiten, ist zu einem guten Teil ebenso Wunscherfüllung wie Angstabwehr, dabei aber immer um die Bewahrung eines Realitätsbezugs bemüht. So bewegt sich das Buch fortlaufend am Rande zu Kitsch und Klischee, nicht ohne auch ab und an dorthin abzustürzen, um dann mühsam zurückzukehren zu Vernunft und Wahrscheinlichkeit.

 

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Elizabeth George

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Heinz Schlaffer. Die kurze Geschichte der deutschen Literatur . München: Hanser, 2002.

 

Was kann man sagen? Herr Schlaffer ist zwei Jahre jünger als mein Vater und ich Germanist. Und selbst wenn ich mein Leben lang Herrn Schlaffer nicht gesehen, schon gar nicht gesprochen und leider nur sporadisch zur Kenntnis genommen habe – ein wenig ist es doch, wie wenn der Sohn über seinen Erzeuger zu Gericht sitzt. Zumindest aber liegt da ein Buch von einem aus der Erzeugergeneration vor mir und wenn die Kämpfe mit dem anderen auch schon lange zurückliegen und wir inzwischen zusammen wandern gehen und wie normale Menschen miteinander sprechen können, so ganz wohl ist mir nicht und auf das Wandern muss in jedem Fall auch noch einmal zurückgekommen werden.

Also, die kurze Geschichte der deutschen Literatur, sie hat zu Veröffentlichungszeiten in den Zeitungen Aufsehen erregt und erst einmal wünscht man sich mehr von dieser Art: kurze, persönlich gefärbte Rückschauen auf die eigene Lektüre, meinetwegen auch mit behutsam systematisierender Absicht, so das Schicksal einen zum Germanisten bestimmt hat.

Bestimmt gibt es viele Arten mit diesem Buch zufrieden zu sein und ebenso viele der Unzufriedenheit. Schlaffers Tendenz zur Wertung und klaren Ansprache ist eine der Stärken des Buches. Ebenso sprechen die knappen 150 Seiten für eine Lektüre, denn kurz ist, zumindest laut Schlaffer, nicht nur die Geschichte der deutschen Literatur, sondern auch das, was er dazu schreibt. Und trotzdem lässt sich einiges daraus lernen. Etwa, dass das Besondere der deutschen Literatur darin liegt, dass die Religion, zunächst die Reformation, später ab 1900 auch Katholizismus und Judentum, eine größere Rolle in ihrer Entwicklung gespielt haben als anderswo in Europa. Erfreulich ist auch, dass Schlaffer den internationalen Charakter der deutschen Literatur betont und auf den Einfluss etwa der Antike und der europäischen Literatur auf Goethe und seine Zeitgenossen hinweist. Auch, dass er noch einmal klarstellt, dass es so etwas wie eine klassische Epoche nicht gab, erfreut und erleichtert sehr. In den Schulbüchern ist dieses Wissen noch nicht angelangt. Insgesamt ist, was Schlaffer an literaturhistorischen Zusammenhängen darlegt klar, lehrreich und durchweg gut lesbar. Der Mann hat viel gelesen, darüber nachgedacht und ist, was die Forschung angeht, auf der Höhe der Zeit.

Nicht auf der Höhe ist er jedoch, was die Frage des Wanderns angeht. Nachdem Schlaffer auf die Bedeutung des Wanderns für die Dichtung der Klassik und Romantik hingewiesen hat, behauptet er kurz und knapp: „in Deutschland stirbt es zur Zeit aus.“ Vielleicht wird es Herrn Schlaffer ja freuen: Die Renaissance des Wanderns, davon sind die Zeitungen voll. Das Internet quillt über von Routenbeschreibungen und Daten für GPS-Geräte, vom Geocaching ganz zu schweigen. Und wenn schon ich mit meinem Vater den höchsten Berg Nordrhein-Westfalens besteige, wer kann da vom Aussterben des Wanderns sprechen? Also, das ist Unfug.

 

Und dieser Fall ist keine Ausnahme. Gerade auf dem Gebiet der persönlichen Wertungen, der Klärung zwischen Geglücktem und Missglücktem, die Herrn Schlaffer wichtig ist, kommt es zu Fehltritten und daraus sich ergebendem gefährlichen Steinschlag. Es mag noch angehen, den Faust als das bedeutendste Werk der deutschen Literatur zu bezeichnen. Seinen Autor Goethe, aber als den „besten“ deutschen Dichter zu apostrophieren, ist ein wenig platt. Ebenso sinnlos ist es, wenn Keller und Fontane als die besten Autoren nach 1848 bezeichnet werden. (Also ich, wenn ich das mal sagen darf, finde Wilhelm Raabe besser.) Schlaffer fehlt, finde ich weiterhin, der Sinn für Humor, Satire und Witz. Zumindest ist er nicht bereit, Autoren, in deren Werk diese Aspekte auffällig sind, eine größere Bedeutung zuzuerkennen, Das gilt für Raabe ebenso wie für Grimmelshausen und Arno Schmidt. Allein Gernhardt kommt mal wieder gut weg. Aber hier ist natürlich nicht der Ort, Einzelurteile gegen Einzelurteile anzuführen.

Allgemein aber gilt auch im Hinblick auf Schlaffer, dass er natürlich seine Lieblinge hat, zu denen ganz sicher – wie übrigens auch für meinen Vater - Gottfried Keller zählt. Es sei ihnen unbenommen. Schlaffer also, hat seine Lieblinge, er hat seine Forschungsschwerpunkte und aus dieser Perspektive schreibt er seine kurze Literaturgeschichte Deutschlands. Womit er skandalisieren möchte, ist natürlich seine These, dass es deutsche Literatur von Bedeutung erst mit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gibt. Da hat die deutsche Literatur Weltgeltung. Das 19. Jahrhundert ist epigonal und taugt weniger, der Beginn des zwanzigsten ist wieder groß und das war´s dann. Diese Bewertung ist nun nicht gerade originell und wendet sich zu Beginn des Buches gegen all die armen Gestalten, die sich mit den nach Schlaffers Ansicht toten Perioden der deutschen Literatur beschäftigen, wie etwa dem 16. und 17. Jahrhundert. Was da an Tradition und Literaturgeschichte aufgefahren werde, sei reine Germanistenerfindung und hätte keinen Rückhalt in der Lese- und Rezeptionswirklichkeit. Das Zeug sei heutzutage schlichtweg nicht mehr zu lesen. Aber wer, Herr Schlaffer, ließe sich da entgegnen, wer, außer ein paar Lehrern, Wissenschaftlern und geknechteten Schülern liest denn heute noch Goethe? Und wenn man dann noch ihren stolzen Satz „Literatur im strengen Sinne ist nur, was ein ästhetisches Vergnügen bereitet“ in Anwendung bringt, was bleibt dann übrig?

Nichts, und das schreibt Schlaffer auch traurig am Ende seines Buches. Niemand mag mehr die Klassiker lesen, nicht einmal mehr die Gebildeten, und so ist die deutsche Literatur in den letzten fünfzig Jahren auch den Bach runter gegangen, sagt Herr Schlaffer.

Naja, so funktioniert doch die Welt nicht, auch die literarische nicht, oder? Außer eben für Germanisten, aber wie es in der kurzen Geschichte in einem treffenden Zitat aus der Reformationszeit heißt: „Die Gelehrten, die Verkehrten“. Auch Herr Schlaffer also kann seine Herkunft als Gelehrter, als Germanist, nicht leugnen und unterliegt wie alle Literarhistoriker, dem Zwang zum Ordnen, Systematisieren und Zusammenhänge herstellen sowie der Neigung zur Absolutsetzung der eigenen Interessen. Tatsächlich aber – und das deutet ja Schlaffer selber immer wieder an, vermag es aber nicht wirklich, seine Germanistenhaut abzustreifen, tatsächlich ist die Geschichte der Literatur im Allgemeinen und das heißt, nicht nur die Geschichte der deutschen Literatur, von Diskontinuitäten, Brüchen, Plagiaten, Rückschritten, Zeitungleichheiten, Interferenzen mit anderen Künsten und Unkünsten, sowie dem Einfluss politischer, religiöser und kultureller Einflüsse jeder Art geprägt.

Denn, und das muss stets beachtet werden, letztlich geht es um meist einsam an ihrem Tisch hockende, vor sich hin fantasierende, bzw. diese Fantasien in eine lesbare Form bringende menschliche Einzelwesen. Und diese Fantasien sind am Ende der entscheidende Faktor. Oder um es deutscher und zugleich romantischer auszudrücken, die Einbildungskraft ist es, die am Ende zählt und sie speist sich aus dem, was der Dichter als junger Mensch, denn da sind die Eindrücke neu und bleibend, erlebt, gelesen, gehört, gesehen oder sonst wie erfahren hat. Und ganz bestimmt sind die Lektüreeindrücke hier von großer Bedeutung. Denn nach einem literarischen Modell wird begonnen, die Dinge zu formen. Und das kann alles sein, ob es nun ein übersetzter Shakespeare ist, ein französisches Ritterepos, griechische Hymnen oder die Kurzgeschichten von Hemingway. Irgendwo da beginnt es, wird angereichert von Erfahrungen, Erinnerungen, neuen Lektüren, Zusammenarbeit mit anderen, die Ähnliches unternehmen und von dort geht es dann weiter und weiter.

Das gilt für die Gegenwart, hat für die Zeit der Klassik und Romantik gegolten und auch für die frühe Neuzeit. Das mag übertrieben ahistorisch sein, und wie der Prozess des Schaffens abläuft und zu welchem Ziel er unternommen wird, mag variieren – der eine diktiert Romane, der andere schreibt Kirchenlieder, die dritte schreibt für ihre Schublade – aber die Grundsituation bleibt gleich.

Ob nun ein Gedicht, ein Roman, oder ein anderes literarisches Werk glückt, ob es Wirkung entfaltet, womöglich sogar über lange Zeit, das hängt von einer Vielzahl von Einflussgrößen ab, unter denen der Zufall nicht die geringste sein dürfte. Sicherlich nicht abhängig ist dieses Glücken aber davon, ob es eine ungebrochene Tradition gibt, d.h. davon, ob der Dichter die vielgelobten Werke der Alten kennt.

Wie Schlaffer selber schreibt, ist die mittelalterliche deutschsprachige Literatur kaum tradiert worden und in Zeit der Klassik und Romantik beriefen sich die Dichter auf andere Vorbilder. Warum also, sollte es, wie Schlaffer behauptet, ein solches Verhängnis sein, wenn „Lessing, Goethe, Hofmannsthal oder Musil … für heutige Leser … unvertraut und dunkel geworden sind“?

Wo die nächste große Zukunft der deutschen Literatur wurzelt, weiß heute niemand. Dass es sie geben wird, solange unsere Zivilisation existiert, ist anzunehmen.

Wer aber schreiben will, soll es guten Gewissens tun und kann es tun, unbekümmert darum, was die Germanisten schreiben. Sie oder er wird sich seine Vorbilder suchen und wenn Glück dazukommt, findet sich auch ein Publikum, das Freude an den Hervorbringungen findet und ihnen Qualität zuspricht.

Vergessen und Untergang des Alten sind kein Nachteil für die Entwicklung der Literatur, egal, welcher nationalen Provenienz sie ist. Vergessen und Untergang sind in diesem Zusammenhang Notwendigkeiten.

 

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Perlentaucher mit Kurzbio und weiteren Rezensionen